Wer die Stadtbibliothek Viersens betreten möchte, kommt an ihr kaum vorbei: der schlanken, hohen Gestalt aus Bronze. Eindeutig menschlich, aber auf das Wesentliche reduziert, erhebt sie sich auf dem Vorplatz. Angedeutete Beine, ein Körper, ein Kopf sind zu erkennen. Ihr ins Gesicht kann man nicht so ohne Weiteres blicken, befindet es sich doch etwa 50 Zentimeter über Augenhöhe.
Die „Große Stehende“ ist eine Skulptur der Bildhauerin Maria Lehnen. Die menschliche Figur ist aus der Bildhauerei, auch im zeitgenössischen Kunstschaffen, nicht wegzudenken. Seit über 50 Jahren entwickeln Künstlerinnen und Künstler Menschenbilder, die das Innere nach außen kehren und versuchen, der Psyche des Menschen einen Ausdruck zu verleihen.
Betrachtet man Maria Lehnens Skulpturen als in einen Kokon eingesponnene Figuren, kann man sie als Symbol für das innere Wachsen eines Menschen deuten. Eingebunden, verschnürt, verhüllt in Ansprüche und Anforderungen, so stellt sie den Menschen dar. Doch in seiner aufrechten, stolzen Haltung scheint das nur ein vorübergehender Zustand zu sein. Scheint der Mensch sich auf den Weg der Befreiung zu begeben, sich aus den äußeren Zwängen, den Ansprüchen und Anforderungen zu befreien. Oder aber: Er scheint einen Weg gefunden zu haben, sich trotz der Ansprüche und der Zwänge, denen er ausgesetzt ist, als Persönlichkeit zu behaupten. Maria Lehnen entwickelte ihre Menschenbilder auf diesem Grat zwischen Fragilität und Stärke, zwischen Zwang und Freiheit, zwischen Bindung und Befreiung.
Die Arbeiten basieren auf einem Modell, oft aus Erde, Torf oder Ton, das zunächst modelliert, dann geschnürt und schließlich in Bronze gegossen wird. Die Oberfläche der Bronze wird abschließend patiniert. Bemerkenswert ist das Verhältnis zwischen der Höhe der Figur und der geringen Standfläche – ein Aspekt, der erneut die Frage nach Fragilität versus Stabilität aufwirft.
Autorin: Sigrid Blomen-Radermacher
Biografie & künstlerischer Werdegang
Maria Lehnen (*1949 in Nettetal, † 2025 in Mönchengladbach). Die Künstlerin studierte 1973 bis 1979 freie Kunst an der Staatlichen Akademie Düsseldorf, sie wurde Meisterschülerin bei Karl Bobek. Seit 1979 arbeitete sie als freie Künstlerin im Bereich Malerei und Bildhauerei mit einem Atelier in Mönchengladbach. Skulpturen im öffentlichen Raum finden sich u. a. in Mönchengladbach, Würzburg und Bietigheim.
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