Mit der Hand am Handlauf erklimmen die Menschen die Stufen hinauf zum Kreishaus, biegen um die Ecke und lassen die Hand noch für ein, zwei Stufen an dem kühlen Rohr aus Edelstahl entlanggleiten. Doch noch bevor sie ganz oben ankommen, verändert sich das Gefühl in der Hand: Der Handlauf scheint den Treppensteigenden in die Höhe entführen zu wollen. Der Blick bestätigt die Empfindung: Der Handlauf geht in eine 322 Zentimeter lange Senkrechte über. Was nun fehlt, ist die dazugehörige Treppe.
Die technisch präzise ausgeführte Verlängerung verstärkt den Eindruck, dass der gesetzlich vorgeschriebene Handlauf und dessen Fortsetzung wie aus einem Guss entstanden sind. Es handelt sich um die „Antenne Viersen“, eine skulpturale Intervention der Bildhauer Maik und Dirk Löbbert. Seit 2018 irritiert diese Edelstahlstange die Passantinnen und Passanten, zumindest jene, die sie überhaupt wahrnehmen, und verwandelt einen alltäglich, meist unbeachteten Gegenstand in ein Kunstobjekt. Die Bildhauer Maik und Dirk Löbbert verbinden in ihren Projekten Kunst und Alltag im öffentlichen Raum. Die Objekte sind immer auf den Ort, an dem sie installiert sind, bezogen. Sie greifen die vorhandene Situation auf, entwickeln sie weiter – oft durch minimale Eingriffe – und verändern sie dadurch. Hätte es an dieser Stelle keinen Handlauf gegeben, hätten sie dort keine Kunst gemacht, so die Bildhauer. „Die Skulpturen sollen die Wahrnehmung irritieren und unterbrechen“, lautet ihr künstlerisches Prinzip. Die „Antenne Viersen“ nennen sie daher auch „Irritationsstange“.
Geländer und Handläufe erfüllen normalerweise rein rationale Zwecke: sie dienen den Menschen als Absturzsicherung, als Barriere vor unbefugtem Betreten, sie helfen bei der Orientierung und Unterstützung, besonders Menschen bei Gleichgewichts- oder Gehproblemen, sie erfüllen gelegentlich auch den Zweck der Verkehrsleitung. Wenn es der „Antenne Viersen“ gelingt, den Blick und die Gedanken der Passantinnen und Passanten für einen kurzen Moment in eine andere Richtung zu lenken, sie veranlasst, den im wahrsten Sinne des Wortes gewohnten Pfad für einen kurzen Moment zu verlassen, den Kopf zu heben und vom Boden in den Himmel zu schauen und damit die Perspektive zu wechseln, dann hat sie eine wichtige ideelle Funktion erreicht. Und nicht zuletzt beweist die „Antenne Viersen“: Kunst darf durchaus auch eine humorvolle Seite besitzen.
Autorin: Sigrid Blomen-Radermacher
Biografie & künstlerischer Werdegang
Maik Löbbert (*1958 in Gelsenkirchen, lebt in Köln). Er studierte Fotografie an der Gesamthochschule Kassel und Malerei sowie Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Von 2001 bis 2021 lehrte er als Professor für Bildhauerein und Kunst im öffentlichen Raum an der Kunstakademie Münster, ab 2005 als deren Rektor.
Dirk Löbbert (*1960 in Wattenscheid, lebt in Köln und Münster). Er studierte Bildhauerei an der Fachhochschule Köln und Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf. Seit 2001 hat er eine Professur für Bildhauerei und Kunst im öffentlichen Raum an der Kunstakademie Münster.
Seit 1985 sind Maik und Dirk Löbbert als Künstlerduo tätig.
Jetzt beitreten